Wer sich schon einmal mit chronischen Krankheiten auseinandergesetzt hat, kennt das Gefühl:
Die eigene Energie scheint begrenzt, und jeder Schritt im Alltag erfordert eine wohl überlegte Entscheidung. Die sogenannte Löffel-Theorie, die 2003 von der US-Amerikanerin Christine Miserandino entwickelt wurde, hilft, genau dieses Gefühl verständlicher zu machen. Sie veranschaulicht, wie es sich anfühlt, mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung zu leben – und warum das oft nicht von außen erkennbar ist.
Was ist die Löffel-Theorie?
Die Löffel-Theorie stellt die Energie eines Menschen als begrenzte Anzahl an "Löffeln" dar. Jeder Mensch beginnt den Tag mit einer bestimmten Anzahl an Löffeln – gesunde Menschen haben praktisch unbegrenzt viele, während Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen nur eine begrenzte Anzahl zur Verfügung haben. Für jede Tätigkeit im Alltag, sei es das Aufstehen, Anziehen oder Einkaufen, wird ein Löffel "verbraucht".
Christine Miserandino entwickelte die Theorie in einem Gespräch mit ihrer besten Freundin, als diese sie fragte, wie es sich anfühle, mit Lupus zu leben. Um ihre Antwort anschaulich zu machen, nahm sie eine handvoll Löffel und erklärte, dass jeder Löffel eine alltägliche Aufgabe symbolisiert. Schon nach wenigen Aufgaben war ein erheblicher Teil der Löffel aufgebraucht, was ihrer Freundin bewusst machte, wie viel Energie alltägliche Tätigkeiten kosten können.
Die Bedeutung der Löffel-Theorie für Menschen mit chronischen Krankheiten
Die Löffel-Theorie macht deutlich, dass nicht alle Einschränkungen sichtbar sind. Viele chronische Krankheiten, wie etwa CFS/ME (Chronisches Fatigue-Syndrom), Post- oder Long-Covid oder auch andere chronische Erkrankungen, verursachen Fatigue (chronische Erschöpfung), die oft nicht sofort erkennbar ist. Menschen, die damit leben, müssen ständig entscheiden, welche Aufgaben sie angehen und welche sie auf später verschieben oder ganz streichen müssen – sonst könnten sie "ohne Löffel" dastehen und nicht mehr in der Lage sein, den Tag zu bewältigen, da ihre Energiereserven aufgebraucht sind.
Fatigue und ihre Bedeutung in der Logopädie
In der Logopädie ist Fatigue ein zentrales Thema, insbesondere bei Patient*innen mit CFS/ME oder Post/Long Covid. Fatigue beeinträchtigt die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, zu sprechen oder zu kommunizieren – und das kann die logopädische Arbeit erheblich erschweren.
Pacing – Ein Ansatz zur Alltagsbewältigung
Pacing ist eine Methode des Energiemanagements, die ursprünglich aus der Selbsthilfe von Betroffenen chronischer Erkrankungen stammt. Sie wird heute als eine zentrale Strategie in der Behandlung von Fatigue und CFS/ME eingesetzt. Ziel des Pacing ist es, den Alltag so zu organisieren, dass Rückfälle und eine Verschlimmerung der Symptome durch Überanstrengung vermieden werden. Gleichzeitig wird die Selbstwirksamkeit gefördert, damit Betroffene trotz ihrer Krankheit aktiv am Leben teilhaben können.
Wie genau funktioniert Pacing?
Die Betroffenen können sich anhand der 12-Löffel-Theorie vorstellen, dass Ihnen für einen Tag 12 Portionen Energie zur Verfügung stehen. Im zweiten Schritt ist die Überlegung "Welche Tätigkeit kostet mich wie viel "Löffel?" wichtig, um so zu erkennen, welche Aktivität reduziert werden sollte und wie der Alltag umgestellt werden kann. So lernen sie, dass die gemachten Pläne eventuell angepasst werden müssen. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich auch, dass Patient*innen bei erhöhten Energielevel, auch ihr Aktivitätslevel wieder steigern können.
Ein wichtiger Bestandteil des Pacing ist daher, auf den eigenen Körper zu hören und den Tag bewusst zu planen. Dazu gehört auch, Tagebuch zu führen, um individuelle Warnsignale zu erkennen und entsprechend zu reagieren.
Pacing in der logopädischen Therapie
Da es derzeit keine medikamentöse Behandlung für CFS/ME gibt, konzentriert sich die Therapie auf Energiemanagement, Symptombehandlung und Stresskontrolle. Die Therapie verfolgt das Ziel, die Belastbarkeit schrittweise zu erhöhen, ohne die Gesundheit zu gefährden. Ein wesentlicher Aspekt ist es, die Aktivitäten so zu planen, dass der Patient innerhalb seiner Energiegrenzen bleibt.
In der logopädischen Praxis bedeutet das, dass Wiederholung und Steigerung von Widerstand zwar wichtig sind, aber immer mit dem Fokus auf den Energiehaushalt der Patient*innen. Zudem ist es wichtig, Hilfsmittel und Unterstützung zu bieten, um die Therapie auch in belastenden Zeiten fortsetzen zu können.
Wichtige Methoden, die im Rahmen von Pacing angewendet werden, sind:
Zeitmanagement: Aktivitäten bewusst einteilen und Pausen einplanen.
Verhaltenstherapeutische Elemente: Den Umgang mit Stress und Belastungen trainieren.
Zielorientierung: Realistische, anpassungsfähige Ziele setzen, die der aktuellen Energieverfügbarkeit entsprechen.
Die eigenen Grenzen erkennen und Alltagsbewältigung meistern
In einer Welt, in der chronische Krankheiten oft unsichtbar sind, bieten die Löffel-Theorie und das Pacing wertvolle Werkzeuge, um die Herausforderungen des Alltags besser zu verstehen und zu meistern.
Sie ermöglichen eine realistische Einschätzung der eigenen Energie und Belastbarkeit und helfen dabei, das Leben schrittweise und nachhaltig zu gestalten.
Wenn Sie selbst von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, scheuen Sie sich nicht, diese hilfreichen Werkzeuge in Ihren Alltag zu integrieren - wir vom Zentrum Mensch unterstützen Sie gerne dabei.
Die Löffeltheorie wirkt nicht nur in die Logopädie hinein, sondern in alle Fachbereiche, die sich mit chronischen Erkrankungen beschäftigen, wie die Physiotherapie oder Ergotherapie.
Der Artikel entstand auf Impuls unserer ZM Heldin und Logopädin Frauke Neumann.
Mit unserem vielfältigen Angebot an Therapie- und Kursmöglichkeiten sowie Coaching, begleiten wir Sie auf Ihrem Weg.
Entdecken Sie unsere Angebote:
https://www.mytherapyapp.com/de/app-for-fighting-cfs https://www.mecfs.de/wp-content/uploads/2020/11/Postvirale-Fatigue_MECFS_Pacing.pdf
Nacul L, Authier J, Scheibenbogen C et al. EUROPEAN ME NETWORK (EUROMENE) Expert Consensus on the Diagnosis, Service Provision and Care of People with ME/CFS in Europe. https://www.preprints.org/manuscript/202009.0688/v2 Fabi A, Bhargava R, Fatigoni S, Guglielmo M, Horneber M, Roila F, Weis J, Jordan K, Ripamonti CI; ESMO Guidelines Committee. Electronic address: clinicalguidelines@esmo.org. Cancer-related fatigue: ESMO Clinical Practice Guidelines for diagnosis and treatment. Ann Oncol. 2020 Jun;31(6):713-723. doi: 10.1016/j.annonc.2020.02.016. Epub 2020 Mar 12. PMID: 32173483. Ceravolo MG, Arienti C, de Sire A, Andrenelli E, Negrini F, Lazzarini SG, Patrini M, Negrini S; International Multiprofessional Steering Committee of Cochrane Rehabilitation REH-COVER action. Rehabilitation and COVID-19: the Cochrane Rehabilitation 2020 rapid living systematic review. Eur J Phys Rehabil Med. 2020 Oct;56(5):642-651. doi: 10.23736/S1973-9087.20.06501-6. Epub 2020 Jul 24. Update in: Eur J Phys Rehabil Med. 2020 Sep 01;: Update in: Eur J Phys Rehabil Med. 2020 Dec;56(6):839-845. Update in: Eur J Phys Rehabil Med. 2020 Oct 29;: PMID: 32705860.
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